Wir machen uns zum Narren
 
schrieb am 26.01.2008

An jedem Wochenende gibt es mittlerweile eine Möglichkeit zum Feiern. Warum brauchen wir dann noch Karneval? Damit wir eine Auszeit vom Alltag nehmen und Teil einer großen Gemeinschaft sind.

VON MARTINA STÖCKER
An Karneval gelten keine Ausreden. Der Cowboy meint, er sei ein schlechter Tänzer? In einer überfüllten Kneipe spielt das keine Rolle. Und dann wagt er es nicht, sich an die Indianerin anzuschleichen. Ein schüchterner Cowboy? Doch nicht im Karneval!

Kein Jeck bleibt einsam - er ist einer von 100 000 am Zug, einer von 100 in der Kneipe

An den tollen Tagen kann sich kein Jeck blamieren oder sein Gesicht verlieren. Wie auch? Niemand hat eins, alle verbergen sich hinter einer Maske oder einem Kostüm — in einer anderen Rolle. „In der Narrenwelt leben alle auf Probe”, schreibt der Psychologe und Karnevals-Philosoph Wolfgang Oelsner. „Die Sehnsucht kommt zum Ausdruck, sich auszumalen, wie es wäre, ein anderes Leben zu führen.”

Deshalb hat der Karneval seinen angestammten Platz. Ballermann, Kirmes, Paraden und andere Feste sind keine Konkurrenz. Die jecke Zeit befriedigt perfekt das Bedürfnis nach einer Auszeit vom Alltag.


An Karneval gelten andere Regeln:
Man darf wild, frech, laut, schrill und ausgeflippt sein
 - Die Konventionen sind außer Kraft.

Diese Auszeit lässt sich am besten im Kollektiv erleben. In der Gemeinschaft machen sich die Karnevalisten zum Narren, und niemand bleibt allein. Er ist einer von 100 000 am Zugweg, einer von 100 in der Kneipe. Der Jeck, selbst der Einsamste, gehört allein durchs Jecksein dazu. Er trinkt einen mit und stellt sich nicht an. Bei der Polonäse zieht er mit, feiert Arm in Arm mit Fremden. Zurückhaltende werden zum Casanova, Mauerblümchen zum Mittelpunkt des Saales.

Flirten ist erlaubt, sich etwas trauen auch. Ein Korb versetzt lediglich einen kurzen Dämpfer. An der Maske prallen Zurückweisung und Enttäuschung ab. Es ist ja nicht der Bankkaufmann, der eine Abfuhr bekommt, sondern der Cowboy. Und der, den Colt im Gürtel, reitet ungerührt weiter — einen Saloon weiter wartet schon das nächste Mädchen. Niemand muss trotz Zügellosigkeit Konsequenzen fürchten — solange sich alles innerhalb der Spielregeln bewegt: Ein Bützchen ist noch lange keine Einladung zu mehr; ein Schwips muss nicht im komatösen Suff enden.

Der Karneval ist der Gegenpol zur normalen Gesellschaft. Hier muss niemand perfekt sein, Erfolg und Schönheit zählen nicht. Humor, Selbstironie und Fantasie sind die Gewinner-Karten im Spiel. Wer mit seinem Porsche punkten möchte, ist draußen: An Karneval fahren alle Bus und Bahn. „Der Mensch wird bedingungslos angenommen wie er ist”, sagt Oelsner. Man darf wild sein, frech, laut, obszön, schrill, ausgeflippt. Der Karneval ist das Ventil, durch das sich Aufgestautes und Träume entladen.

Der Reiz der Ausgelassenheit und des Rollentauschs liegt in der zeitlichen Begrenzung

Größter Ausdruck dessen sind die Kostüme. „Jeder Mensch muss einmal heraus aus seiner Haut”, stellt Oelsner fest. Die Maskerade ist Distanz (zum wahren Leben) und Nähe zugleich. Denn wie lässt es sich besser mit Fremden ins Gespräch kommen als über ist eine pinke Perücke oder gelbe Entenfüße? Und wer den Schottenrock wählt, der wird sich über mangelndes Interesse am „Drunter” nicht beklagen können.

Wichtig am Treiben ist jedoch sein festgeschriebenes Ende. Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste: „Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn.” Der Reiz der Ausgelassenheit und des Rollentausches liegt in deren zeitlicher Begrenzung. „Karneval”, sagt Oelsner, „dient eigentlich der Einsicht, dass eine so ungehemmte, triebbetonte Welt auf Dauer nicht tragfähig ist.” An jedem Wochenende auf eine andere Party zu gehen und dort zu feiern, kann den Karneval nicht ersetzen. Alles, was dauerhaft verfügbar ist, langweilt auf Dauer, ist zuviel des Guten. Der Straßenkarneval ist auf sechs Tage beschränkt, genau die Zeit, in der Gott die Welt erschaffen hat.

Am siebten Tag kommt die große, wohl verdiente Ruhe — am Aschermittwoch ist eben alles vorbei.

INFO Wolfgang Oelsner: „Das Fest der Sehnsüchte – warum Menschen Karneval brauchen”, Marzellen-Verlag, 19,95 Euro.